Rotkehlchens Winter

Rotkehlchens Winter

Es war der erste Sommer des Rotkehlchens und der kleine Vogel war ganz verliebt in die Welt, das Leben, die Pfützen und Blumensamen und vor allem in die nette, junge Buche im Garten von Frau Müller. Die Blätter der Buche hatten einen roten Bauch, ebenso wie das Rotkehlchen, und an ihrem dicksten Zweig hing das kleine Häuschen mit dem Meisenknödel, den Frau Müller auch im Sommer zuverlässig erneuerte. Das Leben war schön und das Rotkehlchen erfand jeden Tag ein neues Lied, um die Schönheit zu besingen.

Eines Tages aber fing die junge Buche an, sich zu verändern. Das Rotkehlchen sprang um ihren Stamm und pickte die von den flatterigen Meisen verteilten Reste des Knödels vom Boden, als ein heftiger Wind aufkam und einen Buchenblätterregen über den kleinen Vogel niedergehen ließ. Das Rotkehlchen erschrak. „Was ist mit deinen Blättern? Warum bleiben sie nicht mehr an den Ästen? Bist du etwa – krank?“ Die Buche lächelte. „Ach, meine kleine Freundin, das ist dein erster Herbst. Wir Bäume müssen unsere alten Blätter abwerfen, damit im Frühling neue und noch schönere Blätter und Blüten an uns wachsen können. Mach dir keine Sorgen.“

Das Rotkehlchen war beruhigt, zumindest fürs erste. Doch als die Buche immer schmaler wurde und immer kranker aussah, wurde es dem Rotkehlchen dann doch zu viel. Warum musste das so sein? Konnten die Bäume denn nichts dagegen unternehmen? Gab es keine Medizin? Warum wehrten sie sich nicht?! Aufgewühlt und unglücklich flatterte es zu seiner Freundin, der jungen Rotbuche. Kahl und tot stand sie in Frau Müllers Garten, das Meisenknödelhäuschen drehte sich im Wind. Dem Rotkehlchen kamen die Tränen. „Meine Freundin, ich will nicht, dass es dir so schlecht geht. Kann ich dir denn nicht helfen, dass deine Blätter wiederkommen?“ Die Buche lächelte. „Das kannst du. Setz dich auf meinen Ast und sing mir eines deiner Lieder vom Sommer. Jeden Tag ein neues, du hast doch so viele schöne Weisen komponiert! Dann wird mir der Winter leichter. Denn ich kann nur eines tun: warten und neue Kraft schöpfen. Das ist keine leichte Zeit, aber eine wichtige und wertvolle. Denn nur im Winter habe ich die nötige Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen. Und die brauche ich: Warte nur, bis der Frühling kommt, dann wirst du sehen, wie prachtvoll ich erblühe.“

Das Rotkehlchen nickte. Es hatte zwar nicht alles verstanden, denn dafür musste es erst selbst seinen ersten Frühling erleben. Doch das Wichtigste hatte es gehört. Der kleine Vogel flatterte auf den obersten Zweig der Buche und begann sein schönstes Lied vom Sommer zu singen. Und es sang so laut, dass ein Lächeln über die Rinden der alten Bäume ging, die im hinteren Teil des Gartens golden im Abendlicht leuchteten. 

© Martina Jung
veröffentlicht in: Balsam für die Seele, Magdalenen Verlag, Holzkirchen 2014